Freitag, 13. März 2015

UAS innenpolitische Situation Artikel


Geld wichtiger als Freizeit?
"Die Amerikaner leben, um zu arbeiten, und die Europäer arbeiten, um zu leben", heißt eine viel zitierte Binsenweisheit im größten Industrieland der Erde. Den meisten Bürgern im Land der unbegrenzten Möglichkeiten ist in der Tat viel mehr daran gelegen, möglichst viel Geld zu verdienen.
Viel Freizeit, Feiertagen, langen Wochenenden und langen Ferien werden dagegen viel weniger Bedeutung beigemessen als der besser gefüllten Lohntüte oder dem höheren Gehalt bei den kleinen Angestellten. [...]
Dabei standen die Amerikaner 2002 mit durchschnittlich 1 904 gearbeiteten Stunden an der Spitze der Länder mit den längsten Arbeitszeiten, gefolgt von Spanien (1 722 Stunden), Italien (1 720), Großbritannien (1 693) und Frankreich (1 605). Schlusslicht oder Freizeitspitzenreiter war Deutschland mit nur 1 557 Arbeitsstunden.
[...] Genauen Einblick in die Wochenarbeitszeiten der Amerikaner gibt die umfangreiche monatliche Arbeitslosenstatistik des US-Arbeitsministeriums. Amerikanische Arbeiter und kleine Angestellte haben im Juni 2004 im Schnitt 33,6 Stunden gearbeitet. Diese scheinbar niedrige Stundenzahl trügt aber. Darin sind Branchen wie das Hotel- und Gaststättengewerbe mit Millionen Teilzeit-Beschäftigten und durchschnittlichen Wochenarbeitszeiten von nur 25,6 Stunden sowie der Einzelhandel mit durchschnittlich 30,5 Stunden Wochenarbeitszeit enthalten. Amerikanische Industriearbeiter arbeiten im Schnitt 40,8 Stunden, wovon 4,6 Stunden Überstunden sind. Im Rohstoff- und Bergwerkssektor beträgt die derzeitige Wochenarbeitszeit 44,4 Stunden. Im Baugewerbe wird im Schnitt 38,1 Wochenstunden gearbeitet, im Finanzgewerbe 35,5 Stunden und bei den Lehrern und Krankenschwestern 32,4 Stunden. Bei den Journalisten und im Informationsgewerbe sind es etwa 36,4 Wochenstunden. Die meisten amerikanischen Unternehmen zögern angesichts der Unsicherheit über die zukünftige Wirtschaftsentwicklung mit Neueinstellungen in großem Stil. Stattdessen lassen sie lieber ihre vorhandenen und während der schlechten Konjunktur der vergangenen Jahre stark reduzierten Belegschaften länger und härter arbeiten.
Kündigungsschutz gibt es in den USA fast nur bei den Beamten. Kaum einem Amerikaner würde es einfallen, sich gegen Überstundenforderungen des Arbeitgebers zu sträuben. Allerdings drängen die Automobilarbeitergewerkschaften und andere Industriegewerkschaften die Unternehmen häufig lautstark, mehr Arbeiter einzustellen. Sie wollen so die vor allem in Werken mit gefragten Automodellen oder Produkten mit enormen Überstunden überforderten Arbeiter entlasten. Die Amerikaner haben in der Privatwirtschaft im Juni im Schnitt 15,56 Dollar je Stunde verdient. Die Lohnpalette reicht von nur 8,80 Dollar je Stunde bei den Arbeitnehmern im Hotel- und Gaststättengewerbe bis 25,41 Dollar pro Stunde bei den hochbezahlten Arbeitern der Versorgungsunternehmen. Die Industriearbeitnehmer kommen auf einen Stundenlohn von durchschnittlich 16,10 Dollar. [...]
Peter Bauer, "Amerikaner arbeiten länger als die Europäer", in General-Anzeiger Bonn vom 15. Juli 2004.

 

Soziale Absicherung

Das hohe Beschäftigungsniveau hat jedoch seinen Preis: Die politische Macht liegt eindeutig auf Seiten der Arbeitgebenden. So liegt der Anreiz der Unternehmen, neue Stellen zu schaffen, sehr stark in der flexiblen Arbeitsmarktverfassung der USA begründet, welche bei vielen US-amerikanischen Arbeitnehmerinnen und -nehmern ein vergleichsweise hohes Maß an Unsicherheit erzeugt. Für Betriebe mit weniger als 100 Beschäftigten existiert kein gesetzlicher Kündigungsschutz.
Ebenso ist die Arbeitgeberseite nicht verpflichtet, eine Begründung für eine Kündigung zu liefern (employment at will). Damit hat das Unternehmen die Möglichkeit, bei unzureichender Produktionsauslastung oder bei ernsteren Krisen Arbeitskräfte weitgehend nach Belieben zu entlassen (hire and fire). Allerdings gehört es ebenso zur US-amerikanischen Wirtschaftskultur, dass die Betriebe bei einer Verbesserung ihrer Auftragslage dieselben Arbeitskräfte auch wieder einstellen.
Dass die "Beschäftigungsschwelle" - das benötigte Mindestwachstum des Bruttosozialprodukts pro Jahr zur Schaffung neuer Arbeitsplätze - in Deutschland bei 2,5 Prozent, in den USA dagegen bei nur 0,2 Prozent liegt, hat seine Ursachen darüber hinaus im Sozialsystem und im Lohnfindungsprozess. Da die soziale Absicherung in den USA relativ gering ist, besteht für Arbeitslose ein größerer Anreiz, sich möglichst schnell wieder eine neue Stelle zu suchen. So wird Arbeitslosengeld im Durchschnitt nur 26 Wochen lang gezahlt, eine anschließende Arbeitslosenhilfe existiert nicht.
Da strenge Bewilligungskriterien (zum Beispiel die Koppelung von einem Mindestgehalt und einer Mindestbeschäftigungsdauer) Anwendung finden, liegt die Quote der Menschen, die durchschnittlich 50 Prozent ihres bisherigen Nettoeinkommens als Arbeitslosengeld beziehen, nur bei 44 Prozent der gemeldeten Arbeitslosen, und es gibt weniger Langzeitarbeitslosigkeit. Während in Deutschland jeder zweite Arbeitslose länger als ein Jahr ohne neue Beschäftigung bleibt, sind es in den USA ganze sechs Prozent.

 

Rolle der Gewerkschaften

 

Ein gravierender Unterschied zur Lohnfindung in Deutschland [und Österreich] besteht in dem hohen Maß an Dezentralisierung in den USA. In Deutschland [und Österreich] werden in der Regel Flächentarifverträge für ganze Tarifbezirke abgeschlossen, "Pilotabschlüsse" in einzelnen Tarifbezirken oft bundesweit umgesetzt. In den USA werden Tarifverträge dagegen meist auf Betriebsebene ausgehandelt, was eine enge Anpassung an die wirtschaftliche Situation des Unternehmens ermöglicht. Am Verhandlungstisch sitzen sich zudem relativ starke Arbeitgeber und vergleichsweise schwache Arbeitnehmer gegenüber. Dieses ungleiche Kräfteverhältnis schlägt sich oft in schlechteren Arbeitsbedingungen als in Westeuropa nieder, zum Beispiel in deutlich längeren Arbeitszeiten und weniger Jahresurlaub.
Aber auch die so genannte Lohnspreizung, der Abstand zwischen den Spitzenverdienern und Beschäftigten mit sehr niedrigen Einkommen, ist erheblich größer. Damit Gewerkschaftsfunktionäre überhaupt als Vertreter der Arbeitnehmerinteressen zugelassen werden, muss die Gewerkschaft im jeweiligen Betrieb erst Anerkennungswahlen gewinnen. Nur rund 20 Prozent der Beschäftigten in den USA werden durch Tarifverträge abgesichert, die Arbeitgeber und Gewerkschaften ausgehandelt haben (so genanntes Prinzip des collective bargaining).
Die geschwundene Verhandlungsmacht der Gewerkschaften zeigt sich auch im Absinken des Organisationsgrades: Der Höhepunkt wurde 1954 mit 38 Prozent der Beschäftigten erreicht, 2002 waren indes nur noch rund 13 Prozent der Beschäftigten Mitglied einer Gewerkschaft.
Die Ursachen für den Mitgliederschwund liegen vor allem im Strukturwandel der Wirtschaft. Zahlreiche Industrieunternehmen haben ihre Produktionsstandorte in den letzten Jahrzehnten vom Nordosten in die Südstaaten verlegt, wo die Gewerkschaften weniger gesetzlich zugesicherte Rechte genießen. Eine wesentliche Rolle spielte aber auch der Wandel von der Industrie, der traditionellen Domäne der Gewerkschaften, hin zur Dienstleistungsgesellschaft.
Der amerikanische Gewerkschaftsdachverband AFL/CIO (American Federation of Labor/Congress of Industrial Organizations) hat aufgrund dieser Entwicklungen seit den neunziger Jahren versucht, eine politische Gegenoffensive zu starten und vor allem Beschäftigte des öffentlichen Dienstes für sich zu mobilisieren - allerdings mit nur bescheidenem Erfolg. Im Jahr 2002 waren 37,8 Prozent in dieser letzten großen Bastion der Arbeitnehmervertretungen gewerkschaftlich organisiert.

 

Gesunkene Realeinkommen

 

Kritische Stimmen des US-Arbeitsmarktsystems halten das "Beschäftigungswunder" für eine "Mogelpackung". So handele es sich bei den neuen Stellen weniger um hochqualifizierte Positionen mit guter Dotierung als vielmehr um schlecht bezahlte Hilfsarbeiten im Dienstleistungsgewerbe ("McJobs"). Neuere Analysen deuten zwar darauf hin, dass rund die Hälfte der neuen Positionen eine berufliche Qualifikation erfordert und entsprechend gut bezahlt wird. Dies ändert allerdings nichts an der Tatsache, dass in den USA - trotz eines gesetzlichen Mindestlohns - ein ausgeprägter Niedriglohnsektor entstanden ist, in dem Millionen von working poor ohne Kranken- und Sozialversicherung arbeiten und so am Rande des Existenzminimums leben müssen. In der öffentlichen Wahrnehmung, gerade aber auch durch entsprechende Medienberichte ist weithin der Eindruck entstanden, viele Amerikanerinnen und Amerikaner müssten mehrere Jobs annehmen, um überleben zu können. Laut Statistik haben jedoch nur 5,3 Prozent (2002) der Beschäftigten mindestens zwei Arbeitsstellen. Die Dunkelziffer ist allerdings nicht bekannt.

Bereits seit 1973 haben die Arbeitnehmenden in den USA insgesamt überdies einen kontinuierlichen Rückgang ihrer Realeinkommen, also ihres inflationsbereinigten, verfügbaren Einkommens nach Abzug von Steuern und Sozialbeiträgen, hinnehmen müssen. Dabei hat sich gezeigt, dass nicht nur die unteren Lohngruppen, sondern vor allem auch die Mittelschicht Opfer der starken Spreizung zwischen niedrigen und hohen Einkommen in den USA wurden. Die gut laufende Konjunktur hat allerdings dazu geführt, dass in der zweiten Hälfte der Neunziger die Nachfrage nach Arbeitskräften größer war als das Angebot. Dies hatte Lohnerhöhungen zur Folge und hievte die Realeinkommen immerhin wieder auf das Niveau von 1989. Ab dem Jahr 2000, mit der Präsidentschaft von George W. Bush, kehrte sich dieser Trend allerdings erneut um. Dagegen verbuchten die Unternehmen kräftige Gewinnzuwächse.

 


Selbstversuch in Key West


Mit Rotstift streiche ich Stellenangebote an. Arbeit gibt es reichlich, offenbar sucht jeder Betrieb im boomenden Hotel- und Gaststättengewerbe von Key West nach Leuten, die so sind wie ich: lernwillig, flexibel und mit bescheidenen Lohnvorstellungen. Ich kann sogar mit noch mehr Vorzügen aufwarten: Ich habe weiße Haut, ich kann gut reden (bilde ich mir jedenfalls ein), und einiges aushalten kann ich auch. Zwei Dinge habe ich mir für meinen Feldversuch geschworen: Ich nehme den Job, der am besten bezahlt ist. Und ich werde alles daransetzen, ihn zu behalten. [...]
Ich landete meinen Treffer bei einer der großen Billighotelketten. Beworben hatte ich mich als Zimmermädchen; eingestellt wurde ich - probehalber - als Kellnerin im dazugehörigen Family Restaurant [...].
So begann meine Karriere im Hearthside, wie ich das Etablissement hier nennen will: dem kleinen Profitcenter eines weltumspannenden Unternehmens, wo ich zwei Wochen lang von 14 bis 22 Uhr arbeiten sollte. Für 2,43 Dollar die Stunde, plus Trinkgelder - wobei der Arbeitgeber, liegt der Stundenlohn einschließlich tips unter dem Mindestlohn von 5,15 Dollar, die Differenz begleichen muß. [...] Mein Abendessen bekomme ich im Restaurant, das dem Personal für nur zwei Dollar die Wahl zwischen Schinken-Salat-Tomaten- oder Fisch-Sandwich und einem Hamburger bietet. Der Burger hält am längsten vor. Aber gegen Mitternacht beginnt der Magen schon wieder zu knurren. Wenn ich nicht in mein Auto einziehen will, bleibt mir nur, einen zweiten oder besser bezahlten Job zu finden.
Erneut rufe ich alle Hotels an, bei denen ich Wochen zuvor die Bewerbungsunterlagen ausgefüllt habe, dazu etwa ein halbes Dutzend der örtlichen Pensionen. [...] Als ich am Ende eine positive Antwort bekomme, bin ich wieder Kellnerin.
Das Jerry's gehört zu einer bekannten Familienrestaurant-Kette. [...] An meinem ersten Tag bei Jerry's fühle ich mich durch die Kälte meiner Kolleginnen abgewiesen. Sie unterhalten sich untereinander, aber mich ignorieren sie total. Warum, erfahren ich am zweiten Tag. "Wie schön, dich zu sehen", begrüßt mich eine Kollegin, "am zweiten Tag, kommt sonst kein Mensch wieder." Ich fühle mich stark, ich habe durchgehalten. Zwei Tage lang habe ich zwei Jobs gleichzeitig geschafft: die Frühstücks-Mittags-Schicht bei Jerry's, die bis 14 Uhr dauert - anschließend ab 14 Uhr 10 im Hearthside, wo ich bis 22 Uhr durchzuhalten versuche. In den zehn freien Minuten dazwischen greife ich mir ein leckeres Hühnchenfleisch-Sandwich an Wendy's Drive-Through, würge es im Auto herunter und wechsle meine Arbeitskleidung. [...] Von meinen Kolleginnen rackert offenbar jede, die keinen gut verdienenden Freund oder Ehemann hat, an einem zweiten Arbeitsplatz. Eine sitzt acht Stunden täglich vor einem Computer, eine andere arbeitet zusätzlich als Schweißerin.
Wenn ich nicht mehr täglich 45 Minuten fahren muss, kann ich mir vorstellen, zwei Jobs zu haben und zwischendurch auch noch Zeit zum Duschen. Also nehme ich [...] den Trailer Nummer 46 im Overseas Trailer Park. [...] Der Innenraum von Nummer 46 ist 2,40 Meter breit und hat den Grundriß einer Kugelhantel. [...] Auf diesem Gelände leben nicht Menschen, sondern Arbeitskräfte in Dosen. Die gilt es, zwischen den Schichten vor der Hitze zu schützen.
Kassensturz. Am Ende eines Monats habe ich 1040 Dollar verdient und 517 Dollar für Essen, Benzin, Toilettenartikel, Alltagskram, Telefon und Waschsalon ausgegeben. Wäre ich in meiner 500-Dollar-Behausung geblieben, hätte ich also gerade mal 23 Dollar zur freien Verfügung übrigbehalten. Dabei hatte ich außer den Diensthosen nichts zum Anziehen gekauft und - abgesehen von den Vitamin-B-Tabletten, mit denen ich das fehlende Gemüse in meinem Speiseplan kompensiere - keinerlei Geld für Medikamente oder ärztliche Leistungen ausgegeben.
Wie Leute, die vorher meist Sozialhilfe bezogen haben, oder alleinstehende Mütter von diesen Niedriglohnjobs ihren Unterhalt finanzieren, das entzieht sich auch nach dem Experiment meiner Vorstellung. Vielleicht schaffen sie es irgendwie, ihr Leben - zu dem Kindererziehen, Essen und Wäsche machen und auch mal was Schönes gehört - in die paar Stunden zwischen ihren Jobs zu zwängen. Vielleicht halten sie es tatsächlich auf Dauer aus in ihrem Trailer oder in ihrem Auto, wenn sie sich eines von beiden leisten können. Ich jedenfalls wäre überfordert. Dabei hatte ich noch günstige Bedingungen, für viele der dauerhaft Armen utopisch: eine robuste Gesundheit, Willenskraft, ein intaktes Auto und keine Kinder. Doch ich bin mir völlig sicher: Unmöglich könnte ich zwei Jobs ausüben. Und mit dem Geld eines einzigen käme ich nicht aus.
Barbara Ehrenreich, "Willig, flexibel, blank", in: Die Zeit vom 27. April 2000.

 

 

 

 


 

US-Gesundheitssystem: Der amerikanische Patient

22.07.2009 | 18:32 | Von unserem Korrespondenten THOMAS VIEREGGE (Die Presse)

Das Gesundheitswesen ist marod, ineffizient und teuer. Es stürzt die Amerikaner in Schulden und lässt ein Sechstel der Bevölkerung unversorgt. Obama will Abhilfe schaffen.

 

WASHINGTON. Damit hätte Lawrence Yurdin in seinen schlimmsten Albträumen nicht gerechnet. Statt allmählich in die Pension zu gleiten, sind der 64-jährige Computerspezialist und seine Frau Claire aus Austin, Texas, bankrottgegangen. Schulden von 200.000 Dollar haben das Paar erdrückt.

Im Vertrauen darauf, dass ein Großteil der Kosten gedeckt sei, unterzog sich Yurdin im Vorjahr zweier Herzoperationen. Üblicherweise übernehmen Versicherungen 80 Prozent der Spitalskosten. Das Versicherungspaket sicherte ihm zwar 150.000 Dollar für einen Krankenhausaufenthalt im Jahr zu, nicht jedoch die teure Behandlung, die Operationen, die Labortests, die Medikamente.

Hätte er das Kleingedruckte der Versicherungspolizze gelesen, wäre Yurdin nun zwar nicht bankrott, würde aber weiter unter Herzflimmern leiden. Und hätte er mit der Operation bis zu seinem 65. Geburtstag zugewartet, wäre er automatisch in den Schutz des staatlichen Medicare-Programms für Senioren gefallen, das wie Medicaid – für Kinder und einkommensschwache Familien – für die Kosten aufkommt.

So wie den Yurdins geht es vielen Amerikanern. Fast zwei Drittel der Privatkonkurse gehen auf Schulden aufgrund medizinischer Behandlungen zurück. Arbeitslosigkeit führt direkt in eine Abwärtsspirale: Der Verlust des Jobs bedeutet meist auch den Verlust der Krankenversicherung. Eine simple Fraktur schlägt da bereits mit mehr als 10.000 Dollar zu Buche.

 

Absurditäten des Systems

Viele Firmen übernehmen eine je nach Größe und Goodwill des Unternehmens unterschiedliche Form des Versicherungsschutzes für ihre Angestellten, obwohl dies nicht zwingend vorgeschrieben ist. Versicherung ist in den USA an sich eine Privatangelegenheit – Ausfluss der libertären Staatsphilosophie und eines theoretisch umfassenden Freiheitsbegriffs. General Motors etwa wendet für die Gesundheit seiner Arbeitnehmer mehr auf als für Stahl.

Der Fall Yurdin illustriert die Absurdidäten eines Gesundheitssystems, das als das teuerste und ineffizienteste der westlichen Welt gilt. Teure Apparatetechnik, die großzügige Verschreibung von Medikamenten und eine Kette von Untersuchungen treiben die Kosten in die Höhe. Das Einkommen der Ärzte orientiert sich an den Leistungen, die sie am Patienten vornehmen. Um sich vor Gerichtsprozessen zu schützen, schließen sie selbst teure Versicherungen ab.

17 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gehen auf das Konto von Gesundheitsleistungen – und trotzdem stehen 47 Millionen Amerikaner, ein rundes Sechstel der Bevölkerung, ohne jeden Versicherungsschutz da, weil sie ihn sich nicht leisten wollen oder können. Ein Drittel der unter Dreißigjährigen erspart sich eine Krankenversicherung, viele Versicherungen lehnen chronisch Kranke gleich von vornherein ab.

Weil die Spitäler verpflichtet sind, Notfälle zu behandeln, quellen die Ambulanzen über. Stundenlange Wartezeiten sind die Folge. In Städten wie New York oder Washington übernehmen mitunter mobile Arztpraxen, finanziert von privater Hand, die Grundversorgung: Zu fixen Wochenzeiten machen Busse in Wohnvierteln Station, um mittellose Patienten gratis zu behandeln.

Seit Jahrzehnten versucht die Politik, das malade System zu sanieren und die Kostenexplosion in den Griff zu kriegen. Hillary Clinton ist als First Lady grandios gescheitert, weil sie den Kongress im Alleingang vor vollzogene Tatsachen gestellt hat. Barack Obama hat daraus seine Lehre gezogen. Bei der Umsetzung seines zentralen Wahlkampfversprechens, dem Jahrhundertprojekt der Gesundheitsreform, hat er auf eine Kooperation mit dem Repräsentantenhaus und dem Senat gesetzt. Der Regierung in Washington schwebt das Vorbild des Bundesstaats Massachusetts vor, das eine Krankenversicherung verpflichtend vorschreibt – nach dem Modell der Autoversicherung.

 

Gefahr der Zerfledderung

Doch nun läuft der Präsident Gefahr, dass das Reformwerk von den diversen Interessengruppen zerfleddert wird. Die Reform ist der Knackpunkt seiner innenpolitischen Agenda, und in diesen Wochen vor der parlamentarischen Sommerpause tobt das parteipolitische Hickhack. Die Gesundheitslobbys, die Pharmafirmen und die Versicherungsindustrie wollen ihre Erbpachten nicht verlieren. Und die gegen Steuererhöhungen und staatliche Intervention allergischen Republikaner wettern gegen die geplante „Reichensteuer“, wittern „Sozialismus“ und frohlocken bereits über ein „Waterloo“ des Präsidenten. Aber auch die „Blue Dog“-Demokraten, der konservative Flügel seiner Partei, drohen mit dem Absprung. Die Kosten von einer Billion Dollar lösen in Zeiten eines grassierenden Budgetdefizits Panik aus.

In einer medialen Großoffensive und einer Pressekonferenz zur Prime Time in der Nacht zum Donnerstag versuchte Obama, das Steuer herumzureißen und die Gegenseite unter Druck zu setzen. „Wenn man keine Frist setzt, geschieht gar nichts in dieser Stadt“, ließ er, zermürbt vom Kleinkrieg im Kapitol, verlauten. „Jahr für Jahr haben wir die Reform totgeredet. Eine Politik der Verzögerung und der Pleiten können wir uns nicht länger leisten.“

USA: Eine Wirtschaftsweltmacht ist zurück

01.05.2013 | 18:16 | von MATTHIAS AUER (Die Presse)

 

Billiges Geld, billige Energie und billige Arbeitskräfte sorgen in den USA für ein Comeback der Industrie. Europa blickt neidisch über den Atlantik. Kopieren kann es das amerikanische Modell aber nicht.

 

Wien. Henry Ford hätte seine Freude gehabt. Nach viereinhalb Jahren Krise geht es wieder aufwärts mit den Kindern des Urvaters der modernen Industrie. Zum Jahreswechsel verkaufte der von ihm gegründete US-Automobilkonzern Ford Motor Company erstmals wieder so viele Autos in den USA wie 2006. Dem Land geht es ähnlich. Zwar läuft die weltgrößte Volkswirtschaft noch nicht auf vollen Touren, die Arbeitslosigkeit ist unverändert hoch. Doch der Aufschwung ist bereits deutlich sichtbar.

Die US-Börsen haben ihre Höchststände eingestellt, acht der zehn größten Konzerne sind amerikanisch und die US-Industrie erlebt ein Comeback. In den ersten drei Monaten des Jahres legte die US-Wirtschaft um 2,5 Prozent zu. Und auch wenn sich Politiker und Ökonomen davon enttäuscht zeigten, Europa kann von solchen Wachstumsraten nur träumen. Genaue Konjunkturdaten gibt es aus der EU noch nicht. Die Industrieproduktion im Euroraum fiel im April allerdings schon den 15. Monat in Folge. Wirtschaftlich wird Europa heuer um die Nulllinie taumeln.

Das wirft die Frage auf: Was macht Amerika besser als Europa? Und kann der Alte Kontinent dem Beispiel der USA folgen?

 

Wachstum auf Pump?

Teil eins des Aufschwungs übernimmt die Notenpresse. Fed-Chef Ben Bernanke hält die Zinsen seit Jahren auf Rekordtief und flutet den Markt mit billigem Geld, um die Wirtschaft anzukurbeln. Hier stehen die Europäer den USA allerdings nicht um viel nach. Auch EZB-Chef Mario Draghi wird am heutigen Donnerstag die Zinsen wohl im Keller halten. Erleben die USA also nur eine Erholung auf Pump? Rechnet man Staat, Unternehmen und Private zusammen, hat sich am Schuldenstand seit dem Höhepunkt des Booms tatsächlich wenig geändert. Er liegt mit 225 Prozent der Wirtschaftsleistung unverändert hoch. Dennoch ist die Notenpresse nicht der Hauptgrund für den Aufschwung.

Die USA erleben (noch) keine Neuauflage eines von Konsumkrediten befeuerten Booms. Auch der Staat lässt als Investor weitgehend aus. Es sind die Unternehmen, die investieren und die Wirtschaft vorantreiben. Erstmals seit den 1970er-Jahren ist die US-Industrie wieder im Aufwind. Damals sorgten Amerikas Industriebetriebe noch für ein Drittel der US-Wirtschaft. Mit dem Aufschwung der Finanzindustrie unter Ronald Reagan verlor der Sektor sukzessive an Bedeutung. Nach der Jahrtausendwende verschwanden sechs Millionen US-Industriejobs in Richtung China. Jetzt kommen sie langsam zurück: Apple hat angekündigt, seine Mac minis künftig in den USA bauen zu wollen, der taiwanesische Elektronikkonzern Foxconn investiert hier und auch der heimische Stahlkonzern Voestalpine baut um eine halbe Milliarde Euro ein Werk in Texas.

Unternehmen aus aller Welt tragen ihr Geld nach Nordamerika, angelockt von billiger Energie und niedrigen Löhnen. Industriearbeiter sind in den USA inklusive Nebenkosten um 35 Dollar die Stunde zu haben, im von hoher Arbeitslosigkeit geprägten Süden sogar um 25 Dollar. In Europa kosten sie 45 Dollar. Gleichzeitig mit dem Sinken der Löhne in den USA sind jene in China sprunghaft gestiegen. Mussten Industriebetriebe 1995 Arbeitern in Amerika noch 40-mal so viel bezahlen wie in China, so ist es heute nur noch das Achtfache. Angesichts der höheren Produktivität der US-Arbeiter löst sich der Vorteil von Werken in Asien so langsam in Luft auf.

Der zweite große Grund für die Rückkehr der Industrie in die USA ist die billige Energie, eine Folge des Schiefergasbooms. Binnen wenigen Jahren hat das Land einen Weg gefunden, Gas und Öl mittels chemischer Substanzen aus tief liegendem Schiefergestein zu lösen („Fracking“). Heute kostet Erdgas in den USA ein Drittel dessen, was Betriebe in Europa bezahlen. So kommt es, dass die US-Produktion steigt, während Europas Industrie in der Krise steckt (siehe Grafik).

 

Europa ruft nun nach Reindustrialisierung

Kein Wunder, dass der alte Kontinent neidisch über den Atlantik blickt. „Europa muss sich reindustrialisieren“, fordert der zuständige EU-Kommissar Antonio Tajani. Die Frage ist nur wie. Denn Europa ist hin- und hergerissen zwischen Schuldenkrise, Klimazielen und Energiewende. Viel Zeit, sich um die Industrie zu kümmern, bleibt da nicht. Kopieren kann Europa das US-Modell ohnedies nicht, sagt Patrick Artus, Chefökonom der französischen Investmentbank Natixis. Von einer Senkung der Lohnstückkosten ist Europa weit entfernt. Länder wie Griechenland machen zwar Fortschritte. In Frankreich oder Italien bleiben die Kosten aber unverändert hoch. Und das Thema Energie? Immerhin schlummert auch in Europa Schiefergas unter der Erde. Auch hier stehen die Chancen schlecht. Der Einfluss der Umweltschützer ist in Europa größer, sodass mit der Ausbeutung der Schiefergasvorräte gar nicht begonnen wird. Doch selbst, wenn die Europäer den Schatz heben dürften, würden sie enttäuscht. Denn die Vorräte sind kleiner als in den USA und lagern doppelt so tief unter der Erde.

 

„Im Spitalwesen geht es nicht um Moral. Sondern einzig ums Geschäft“

30.05.2013 | 18:50 | Von unserem Korrespondenten OLIVER GRIMM (Die Presse)

Vereinigte Staaten. Kein Land gibt für das Gesundheitswesen so viel Geld aus wie die USA. Das liegt an der Marktmacht der Spitalsbetreiber. Gesünder macht es die Amerikaner nicht.

 

Washington. Acht Jahre Kampf gegen den rasanten Anstieg der Gesundheitskosten im US-Bundesstaat Maryland haben Joseph Antos ernüchtert. „Wir haben niemandem auch nur irgendein Geld erspart“, sagt er im Gespräch mit der „Presse“.

Als Mitglied der Kommission für die Prüfung der Gesundheitskosten dieses 5,7 Millionen Einwohner zählenden Staates hatte er dafür zu sorgen, dass die jährlichen Steigerungen der Preise für die Behandlungen im Rahmen des Vernünftigen bleiben. Maryland ist der einzige Bundesstaat, der den Spitalsbetreibern Preise für jede Therapieform vorschreibt. Die gelten dann für jeden Patienten; egal, ob er von seinem Arbeitgeber versichert wird, älter als 65 ist oder arm und im Sozialprogramm Medicaid.

 

Medizintechnik treibt die Kosten

In der Realität allerdings waren die staatlichen Kommissäre mit einem abgekarteten Zusammenspiel der Spitalsbetreiber und Versicherungskonzerne konfrontiert. „Die Spitäler legten uns jedes Jahr einen sehr hohe Faktor zur Anhebung der Kosten vor. Die drei großen Versicherer lagen mit ihren Gegenvorschlägen irgendwo darunter. Und wir haben am Ende einfach den Mittelwert gebildet“, sagt Antos, der heute am wirtschaftsliberalen American Enterprise Institute in Washington forscht. Für die öffentliche Hand gebe es somit kaum eine Möglichkeit, die Kosten zu bremsen: „In Wahrheit müssen solche Kommissionen schlicht und ergreifend Ermessensentscheidungen treffen. Das ist überhaupt nicht auf Daten gegründet. Es ist rein politisch – mit einem kleinen p.“

Das kleine p hat allerdings große finanzielle Auswirkungen. Im Jahr 2011 gaben die Amerikaner in Summe 2,7 Billionen Dollar (2,1 Billionen Euro) für ihr Gesundheitswesen aus, hält das Budgetbüro des US-Kongresses fest. Das waren 17,9 Prozent der Wirtschaftsleistung: Ein Rekord im Kreis der industrialisierten Staaten. Die USA geben einen doppelt so hohen Anteil ihres Bruttoinlandsprodukts für die Gesundheit aus wie der Durchschnitt der OECD-Länder. Der Staat und die Bürger teilen sich diese Ausgaben im Verhältnis 49 zu 51.

Jeder fünfte Dollar entfällt dabei auf das Medicare-Programm. Präsident Lyndon B. Johnson schuf diesen Eckpfeiler seiner sozialstaatlichen „Great Society“-Agenda im Jahr 1965, um für Senioren über 65 sowie behinderten jüngeren Menschen die Krankenversorgung leistbar zu machen. Finanziert wird das in erster Linie mit den Einnahmen aus der Lohnsteuer. Die Senioren zahlen geringfügige Eigenbeiträge.

Die Amerikaner lieben Medicare. Allein von 1985 bis 2011 stiegen die Bundesausgaben für dieses Programm von 1,7 Prozent auf 3,7 Prozent des BIPs. In den vergangenen 25 Jahren wuchsen die gesamten Gesundheitsausgaben pro Jahr im Durchschnitt um 1,6 Prozentpunkte schneller als die Wirtschaft.

Das liegt vor allem an der rasanten Entwicklung neuer medizinischer Technologien, hält das Budgetbüro des Kongresses fest. Damit werden immer mehr schwere Krankheiten heilbar. Die Wunder der Medizintechnik sind aber teuer. Und wenn so ein Kernspintomograf erst einmal im Spital steht, will er ordentlich ausgelastet werden. „Wir haben keine Institutionen, die gut darin sind, Nein zu sehr teuren Behandlungsweisen zu sagen, deren medizinischer Mehrwert begrenzt ist“, gibt Antos zu bedenken. „Medicare ist die Maschine, die in diesem Land die Ausgaben antreibt.“

Denn das Programm verleiht den Versicherten Ansprüche auf bestimmte Leistungen, deckelt aber deren Preise nicht. Somit wird Medicare, bildlich gesprochen, zum Fass ohne Boden: Seit 2008 reichen die Lohnsteuereinnahmen und die Beiträge der Senioren nicht mehr aus, um die Kosten zu decken, weshalb Zuschüsse aus dem Bundesbudget nötig sind. Medicare ist als „entitlement program“ nicht von den automatischen Budgetkürzungen des Sequester betroffen, die seit 1. März in Kraft sind. „Entitlement“ bedeutet Rechtsanspruch. Oder, wie man in Österreich sagen würde, „wohlerworbenes Recht“.

 

Miserable teure Grundversorgung

Wirklich gesünder als der Rest der entwickelten Welt sind die Amerikaner allerdings nicht, wie man aus den OECD-Statistiken lesen kann. Kaufkraftbereinigt gab jeder Amerikaner im Jahr 2010 durchschnittlich 8233 Dollar für seine Gesundheit aus. In Österreich waren es 4395 Dollar, im OECD-Mittel 3268 Dollar. In der Krebstherapie sind die Amerikaner spitze; in der Grundversorgung miserabel. Sechsmal so viele Patienten wie in Deutschland müssen wegen Asthma stationär behandelt werden. Die Fettleibigkeit ist Amerikas Volkskrankheit Nummer eins.

Die hohen Kosten lassen sich damit erklären, dass die Verwaltungskosten des US-Gesundheitswesens dreimal so hoch sind wie im OECD-Schnitt; Ambulanzen sind doppelt so teuer wie im Rest der entwickelten Welt. Eine Geburt kostete im Jahr 2007 mit durchschnittlich 2984 Dollar doppelt so viel wie in Finnland. Die Entfernung eines Blinddarms war mit 5044 Dollar fast doppelt so teuer wie in Deutschland.

Die Spitalsgesellschaften argumentieren damit, dass gute medizinische Betreuung ihren Preis hat und niemandem vorenthalten werden dürfe. „In dem meisten Ballungszentren der USA haben die Krankenhausbetreiber eine enorme Marktmacht entwickelt und treiben die Preise stark nach oben“, kritisiert Antos. Moralische Appelle, wonach Gesundheit für jeden leistbar sein müsse, hält er für scheinheilig: „Hier geht es nicht um Moral. Nicht in diesem Land, nicht in Ihrem. Es geht einzig um Geschäft.“

Obamacare: Segen und Systemfehler

22.10.2013 | 19:01 |  von unserem Korrespondenten OLIVER GRIMM  (Die Presse)

 

Schlampige Planung überschattet Obamas Gesundheitsreform. Der "Presse"-Lokalaugenschein in einem von Texas größten Spitälern zeigt ihren Nutzen für die Arbeiterschicht.

 

Dallas. Albert ist 47 Jahre alt, er ist Schweißer, er hat sein Leben lang auf Baustellen gearbeitet, und er war noch nie versichert. „Ich verdiene zu wenig dafür, und mein Arbeitgeber bietet mir keine Versicherung an.“

Gemeinsam mit Albert sitzen an diesem Oktobermorgen ein Dutzend Menschen in einem Computerraum des Parkland Memorial Hospital in Dallas: drei Schwarze, sieben Lateinamerikaner, ein älteres nahöstliches Paar. Bis auf eine junge Frau sind sie allesamt älter als Mitte vierzig, und ein flüchtiger Blick auf ihre schwieligen Hände zeigt, dass sie ihr Lebtag lang geschuftet haben. Kein Einziger von ihnen konnte sich bisher eine Krankenversicherung leisten.

Das soll sich ändern, sagt Marian Morrow, Managerin des Programms, mit dem Parkland hilft, die neue Krankenversicherung zu beantragen, die der Affordable Care Act ab 1. Jänner zur Anwendung bringt. „Täglich stehen schon um sieben Uhr gut 30Leute vor der Tür“, sagt Morrow. „Das Computersystem hat noch seine Macken. Wir arbeiten oft mit Papierformularen.“

Und das wird von Tag zu Tag zu einem größeren Problem für den Präsidenten. Denn ursprünglich sollte man dank Obamacare kinderleicht eine Krankenversicherung im Internet kaufen können. Doch wer auf healthcare.gov surft, dem stürzt der Computer oft schon nach ein paar Klicks ab. „Die Website ist zu langsam. Da gibt es kein Beschönigen“, grummelte Obama am Dienstag.

Wer aber keinen Absturz erlebt, der ist von Obamacare angetan: Mayra zum Beispiel, die einzige junge Frau im Computerraum des Parkland-Spitals. Sie ist 23 Jahre alt, hat eine einjährige Tochter und arbeitet als Zahnarztassistentin. Der Doktor bietet ihr keine Krankenversicherung an, bezahlt ihr aber auch zu wenig, um sich selbst zu versichern. Die Rechnung von 1200 Dollar für die Entfernung einer Zyste während ihrer Schwangerschaft könne sie sich derzeit nicht leisten, sagt Mayra. Zudem stottert sie noch immer die Kosten für ihre Berufsausbildung ab: „Es ist eine harte Entscheidung, wie viel ich für eine Versicherung zahlen kann.“ Obamas Reform wird rückwirkend ihre Arztrechnung begleichen.

 

Jeder Fünfte in Dallas ist unversichert


Die junge Frau ist typisch für eine jener beiden Gesellschaftsgruppen, die von Obamacare besonders profitieren, sagt Martha Blaine, Leiterin des Community Council of Greater Dallas, einer Sozialhilfeorganisation: „Das sind Menschen, die medizinisch vorbelastet sind, sowie jene, die sich ihre Prämien nicht leisten können, obwohl sie arbeiten.“ Blaine hat selbst so eine bestehende gesundheitliche Vorbelastung: Sie ist Asthmatikerin. „Ich hatte genau vier Anfälle in 40 Jahren. Trotzdem war ich bisher nicht versicherbar.“ Hätten sie ihre Arbeitgeber nicht versichert, wäre sie ihr Lebtag lang auf sich allein gestellt gewesen.

Jeder fünfte Menschen in Dallas-County ist unversichert; das ist eine halbe Million. Nur in drei anderen US-Bezirken sind es noch weniger. Paradoxerweise wird Obamacare für viele von ihnen nichts ändern. Denn der Oberste Gerichtshof hat im vorigen Jahr einen wesentlichen Baustein der Reform annulliert: Washington kann die Staaten nicht zwingen, die Minimalversicherung Medicaid auszuweiten. Zwar werden die Kosten dafür bis 2016 ganz und danach großteils vom Bund bezahlt. Doch 25 republikanische Staaten verzichten darauf. So auch Texas. Blaine ist fassungslos: „Unsere Steuern, die wir hier bezahlt haben, subventionieren Medicaid in anderen Staaten!“

Für Dallas-County und das Parkland-Spital, jenes Krankenhaus, in welches einst der tödlich verwundete Präsident Kennedy eingeliefert wurde, ist dieser Verzicht teuer. 55.000 unversicherten Patienten ermöglicht das County rudimentäre Behandlung. Das kostet die lokalen Steuerzahler 90 Millionen Dollar pro Monat. Würde Texas Medicaid ausweiten, könnte sich Dallas das ersparen.

Diese Dynamik sorgt in mehreren republikanischen Staaten für ein Umdenken. Am Dienstag boxte der Gouverneur von Ohio gegen den Widerstand seiner Partei die Ausweitung von Medicaid durch. In Virginia dürfte dasselbe passieren, wenn der Demokrat Terry McAuliffe die Wahl gewinnt.

Blaine hält Obamacare für „einen Meilenstein in der medizinischen Geschichte der USA“. Denn damit werde die sträflich vernachlässigte Vorsorgemedizin gestärkt. „Viele Menschen gehen krank arbeiten. Und dann ist das Fieber nach zwei Wochen noch immer da.“ Der Schweißer Albert kennt das: „Das letzte Mal war ich vor zwei Jahren beim Arzt. Ich hatte eine Lungenentzündung – und eines Tages konnte ich nicht mehr.“

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